Die konsequente Anwendung des Unfall-Erklärungsmodells bei der Untersuchung von Unfällen hilft, die Wiederholung gleichartiger Unfälle zu vermeiden
Der Gabelstaplerfahrer, ein erfahrener Mitarbeiter, ist seinem Kollegen seitlich über das Sprunggelenk gefahren. Die Folgen sind richtig fies: Der Kollege liegt mit zerstörtem Fussgelenk mit Schmerzen seit Wochen in der Klinik. Inzwischen wurde er mehrfach operiert, eine langwierige Rehabilitation wird folgen. Ob er jemals wieder richtig wird auftreten, jemals ohne Schmerzen wird leben können wird, erscheint ungewiß. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz ist nicht absehbar. Der Verunfallte wird also bleibende Schäden davontragen, daher muss der Arbeitsunfall als schwer eingestuft werden. Bei der Suche nach den Ursachen fallen sehr schnell Formulierungen wie „Fahrfehler“, „Unaufmerksamkeit“ etc., und schliesslich wird der Unfall mit einem Achselzucken in der Schublade „menschliches Versagen“ abgelegt.
So schlimm, wie der Unfall mit seinen Folgen einzustufen ist, so gravierend sind die Folgen eines derart nachlässigen Umganges mit der Ursache von Arbeitsunfällen. Statt „wer ist schuld?“ müssen offene Fragen formuliert werden. Die Leitfrage bei der Untersuchung von Unfallursachen lautet für alle Beteiligten daher immer: „Wie konnte das passieren?“ Oder „Wie war das möglich?“ Damit ist der Blick frei, sind die Köpfe offen, vorbehaltlos hinzuschauen, um anschliessend die Folgefrage zu stellen: „Was lernen wir daraus?“ Diese Frage führt dann zur Leitfrage für die Identifikation von Schutz-Massnahmen, damit sich so ein Unfall niemals wiederholt. Erst, wenn diese Fragen hinreichend tief und meist auch mehrschichtig beantwortet sind, ist es überhaupt sinnvoll, die abschliessende Frage zu stellen: „Wie gestalten wir das Arbeitssystem, damit hier das Rest-Risiko auf ein akzeptables Mindestmass gesenkt werden kann?“ Soweit die Theorie.
Wie können Geschäftsführer und verantwortliche Führungskräfte – der Gesetzgeber, die Strafverfolgungsbehörden und die Rechtsprechung unterscheiden hier nicht, wenn es um potentielle Mithaftung geht – bei der Suche nach den Ursachen eines Arbeitsunfalles konkret vorgehen? Es gibt viele Techniken, Modelle, Frage-Schemata, um bei Problemen die zugrundeliegenden Ursachen zu ermitteln. Handelt es sich um wiederholt auftretende Ereignisse, die zu Problemen führen, können prozessorientierte Analysen wertvolle Ansätze liefern. Beispielsweise der 8D-Report, DMAIC, SixSigma, A3-Problemlösung, usw.. Als datenbasierte Analysewerkzeuge können z.B. Regressionsanalysen, Pareto-Diagramme, Korrelationsdiagramme, Hypothesentests, Q7 Werkzeuge (Flussdiagramm, Fischgräten-Diagramm, Qualitätsregelkarte, Histogramm, Fehlersammelkarte), Ampeldarstellungen, usw. Anwendung finden.
Für die Lösung chronischer Probleme bietet sich die Root-Cause Analyse an. Hier werden unterschiedliche Daten analysiert, mit dem Ziel, aus Vermutungen und Annahmen belastbare Arbeits-Hypothesen zur Problemerkennung zu finden. Und diese Hypothesen anschliessend durch die Analyse der Daten mit Hilfe statistischer Werkzeuge zu bestätigen oder zu widerlegen. Aus den Ergebnissen sollen dann konkrete Massnahmen zur künftigen Vermeidung des Problems abgeleitet werden.
Was haben die erwähnten Methoden gemeinsam? Sie stammen aus dem Qualitäts-Management, und dienen letztlich der strukturellen Problemvermeidung, um die Qualität eines PRODUKTES dauerhaft sicherzustellen. Insoweit sie prozesshaft greifen, steht dennoch der kontinuierliche Output, steht das Produkt mit den gewünschten Qualitätsmerkmalen, im Vordergrund. Bis hierher haben Sie noch nichts Neues gelernt.
Doch jetzt kommt´s: Unfälle passieren nicht. Unfälle werden verursacht! Dieser Widerspruch zur lexikalischen Definition eines Unfalls mag provozierend oder gar schockierend erscheinen, spiegelt jedoch die Quintessenz unserer langjährigen Erfahrung bei der Untersuchung von Unfällen und deren meist vielschichtigen Ursachen. Also Qualitätsmanagement ab in die Tonne? Nein, sicher nicht, QM liefert wertvolle Strukturen und Hilfen bei der Ordnung von verbindlichen Prozessen. Der Fokus muss auf eine andere Kategorie von Begrifflichkeiten gelenkt werden.
Hierzu schauen wir uns das Unfall-Erklärungsmodell der DGUV an. Und damit wird´s plötzlich sehr viel einfacher. Erfahrungsgemäss kommen bei der Anwendung des Unfall-Erklärungs-Modells der DGUV bei der Untersuchung der meisten Unfälle eine Vielfalt an Einzelergebnissen aus Beobachtungen, Analysen und Aussagen von direkt oder indirekt beteiligten Menschen, sowie zusätzliche Indizien, zusammen. Die dann plötzlich ein schlüssiges Bild des Unfallherganges ergeben. Wie im Modell dargestellt, stehen dabei ganz andere Begriffskategorien im Fokus, als bei allen oben erwähnten Methoden aus dem QM. Es ist nur logisch, dass das auch zu völlig anderen Ergebnissen führt. Was ist es, was dieses Unfall-Erklärungsmodell prinzipiell von allen anderen Methoden unterscheidet?
Die DGUV als Dachverband der Unfallversicherungsträger agiert im hoheitlichem (also staatlichem) Auftrag gemäß Sozialgesetzbuch VII. Ihre Geschichte reicht bis auf die Bismarck´sche Reichsversicherungsgesetzgebung zurück. Die Kompetenz der DGUV beim Thema Arbeitsschutz, Unfallvermeidung und Prävention basiert also auf mehr als 150 Jahren Erfahrung. Leidvolle Erfahrung! Denn ohne Übertreibung läßt sich sagen: die Erkenntnisse, die sich in den Regelwerken und Normen der DGUV niederschlagen, sind buchstäblich mit Blut geschrieben. Dem Blut der Menschen, die seither (seit ca. 1880, anm.) in Deutschland bei der Ausführung ihrer Arbeit verunfallten und verunglückten. Aus allen diesen Unfällen lernte man! Systematisch und umfassend. Das Unfallerklärungsmodell ist ein Ergebnis davon. So wie eine Landkarte nicht die Landschaft ersetzt, so ist auch ein Modell nicht die Realität. Sondern eine vereinfachte, generalisierte, reduzierte Vorstellung der Realität in Gedanken. Und dennoch hilft eine Landkarte demjenigen, der sie zu lesen und mit der Landschaft abzugleichen versteht, sich draußen in der Landschaft sicher zu orientieren. So hat sich auch das Unfallerklärungsmodell der DGUV bei der Untersuchung der Ursachen von Unfällen als äußerst hilfreiche Handlungs-Matrix erwiesen. Schauen wir uns das anhand des oben geschilderten Unfalls mal genauer an.
Untersuchung der Ursachen des Unfalles mit dem DGUV-Modell
Was ist passiert? Unfall mit Gabelstapler und Fussgänger; der Maschinenführer ist beim Beladen eines LKW einem Kollegen seitlich über den Fuss gefahren.
Linke Spalte des DGUV-Modells:
Die Gefahrenquelle: Stapler mit Last als bewegtes Transport- und Arbeitsmittel. Sind hier alle Unternehmerpflichten formal erfüllt? Überprüfung des sicheren Zustands, Regelmässigkeit der Wartung und Instandhaltung? Ist der Fahrer ausgebildet, unterwiesen, ausreichend erfahren, um unter den zum Unfallzeitpunkt aktuellen Bedingungen das Arbeitsmittel sicher führen zu können? Ist er gemäss Angebots-Vorsorge- oder Eignungsuntersuchung aktuell (noch) geeignet?
Der Gefährdungsfaktor, der hier wirksam wurde: Angefahren werden / überfahren werden / eingequetscht werden von bewegter Last bzw. Transportmittel
Die gefahrbringende Bedingung: Verkehrswege von Maschine und Fussgänger teilen sich gemeinsame Flächen = Möglichkeit des Zusammentreffens von Mensch und Gefahrenquelle (Hier: Stapler mit Last als bewegtes Transport- und Arbeitsmittel);
- Sicherer Zustand des Arbeitsmittels? Denkbare technische Mängel am Transportmittel:
- Bremsen defekt?
- Zu wenig Hydraulikdruck?
- Beleuchtung defekt?
- Reifen abgefahren, kein Profil?
- Fehlende oder defekte Warneinrichtungen(Kein „Blue-Spot“ bzw. falsch angeschlossen, keine Rundum-Blinkleuchte, kein akustischer oder optischer Rückfahrwarner bzw. defekt, falsch eingestellt, etc.)?
- Glätte
- wegen vorheriger Havarie nicht beseitigtes Öl auf dem Boden?
- durch Nässe auf dem Boden (z. B. LKW-Verkehr in der Halle bei Regenwetter)?
Die begünstigende(n) Bedingung(en) sind oftmals schwer in einer Analyse im Vorfeld erfassbar, liefern aber meist die entscheidenden Hinweise auf bisherige „blinde Flecken“ bei der Gefährdungsanalyse:
- Beleuchtungsverhältnisse zum Unfallzeitpunkt aktuell schlecht (u.U. sehr schnell wechselnd je nach Tages-/Jahreszeit, Wetterbedingungen, hinterher oftmals nicht mehr feststellbar), insbes. an Halleneinfahrten (Lichtwechsel = Tunneleffekt)?
- Plötzlich entstehende Glätte
- durch Bildung von Blitz-Eis (Regen auf gefrorenen, unterkühlten Boden)?
- durch Auslaufen von schmierfähigen Substanzen (Öle, Fette)?
- Plötzliches Technik-Versagen, wie z. B. geplatze Hydraulik- Schläuche etc. (bei ordnungsgemäss gewarteten und betriebenen Arbeitsmitteln sehr selten)
- Plötzliche Schreck- oder Ablenkungswirkung aus benachbartem System, oder von ausserhalb.
Rechte Spalte des DGUV-Modells:
- Der Mensch (der Verunfallte und/oder der Fahrer) hatte zum Unfallzeitpunkt folgende Leistungsvoraussetzungen, bzw. hatte sie nicht:
- Ausreichende Ausbildung, Erfahren oder Vorbereitung, geschult, unterwiesen (Unternehmerpflicht!)?
- Autorisierung, das Arbeitsmittel zu führen? Bzw.
- Autorisierung, sich im Gefahrenbereich des Arbeitsmittels aufzuhalten?
- Sprachkompetenz, um relevante Anweisungen, Unterweisungen, Hinweise richtig zu verstehen und zu verinnerlichen (Sicherstellung der geeigneten Form und Sprache ist Unternehmerpflicht!)
- Zugehörigkeit zu einer besonders schutzbedürftigen Beschäftigtengruppe (Praktikand, Azubi, Minderjähriger, Schwangere, Analphabet, keine Beherrschung der deutschen Sprache, etc.)?
- Der Mensch (der Verunfallte und/oder der Fahrer) war zum Unfallzeitpunkt aufgrund ausserberuflicher Einflüsse
- Übermüdet?
- Abgelenkt (z. B. aufgrund Beziehungs-, Ehe-, familiärer Konflikte, wirtschaftliche Probleme)?
- Überfordert (Auftragsstau, Arbeits- und Termindruck)?
- Latent krank (Diabetes, Infekt, Kopfschmerz, etc.)?
- Verschlechterte Seh-oder Hörfähigkeit (altersbedingt? schleichende Diabetes, etc.?)
Sie sehen, es können eine ganze Menge an Wirkfaktoren identifiziert werden, die in Summe hier zum Wirksamwerden der Gefährdung führten: Es ereignete sich ein tragischer und bedauerlicher Unfall. Steht die Frage nach dem Verursacher oder gar Schuld im Vordergrund, führt das regelmässig dazu, dass all diese oben dargestellten weitergehenden Überlegungen im Sinne des Unfallerklärungsmodells gar nicht erst angestellt werden. Darum ist es in einer von Angst und Schuldzuweisungen geprägten Unternehmens- und Führungskultur meist nur eine Frage der Zeit, bis sich ähnliche Unfälle wiederholen. Weil die eigentlichen URSACHEN nicht erkannt und abgestellt werden. In Summe kann das als Organisationsversagen ausgelegt, und haftungsrechtlich gegen die Verantwortlichen verwendet werden. Strafrechtlich verklagen kann man eine Organisation nicht. Sondern immer nur die repräsentierende Person. Regelmässig lauten dann in solchen Fällen, wo Anklage erhoben wird, die Anklagepunkte „grobe Fahrlässigkeit“ bei der Ausübung und Wahrnehmung der Unternehmerpflichten, und Vernachlässigung der Garantenstellung gegenüber den Mitarbeitern. Ob die Ignoranz der Verantwortlichen aktiv oder passiv war, interessiert die Staatsanwaltschaft und die Gerichte nicht…
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