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Xylol-haltige Spülverdünnung erfolgreich ersetzt, niemand geht mehr mit Kopfschmerzen nachhause

Es wäre untertrieben, zu sagen, im Lacklabor riecht es streng. Nein, denn hier stinkt es! Und zwar nach Verdünner. Der Geruch beisst in der Lunge, so stark ist die Konzentration der Verdünnung, die hier verwendet wird, um Arbeitsmittel und Behältnisse zu reinigen. „Das geht garnicht!“ ist denn auch die spontane, übereinstimmende Reaktion der Sicherheitsfachkraft und des Betriebsleiters, die sich gemeinsam im Rahmen einer Routine-Begehung den Arbeitsbereich anschauen.

Schritt 1: Analyse möglicher Gefährdungen und Belastungen – Was wird hier gemacht?

So wird denn als erstes einfach mal geschaut: Was wird hier eigentlich gemacht? Im Lackierbetrieb des mittelständischen Automobilzulieferers werden Lacke angemischt auf die vorgegebenen Kundenwünsche der OEM-Herstelle. Denn das Karosserie-Anbauteil aus Kunststoff muss exakt den gleichen Farbton haben, wie die Karosserie, die Rückspiegel und die Tankdeckel und Windabweiser. Der Kunde kann sein Fahrzeug in weit über 500 Farben bestellen. Das so genau immer in jedem einzelnen Farbton in der geforderten Qualität gleichbleibend hinzukriegen, ist eine Wissenschaft für sich. Entsprechend hoch spezialisiert sind die Männer, die hier als Experten arbeiten.

Fragen an die Mitarbeiter ergänzen die Beobachtung

Wir schauen uns um, und sehen: Auf dem Arbeitstisch stehen mehrere offene Behälter. Der Geruch kommt von hier. Nun schauen wir einfach mal zu, und lassen uns dabei erklären, wie die Männer arbeiten. Lacke und Tönungen werden auf einem Wiegesystem grammgenau abgewogen und verrührt. Farbreste tropfen über einer Wanne ab. Anschliessend müssen Behälter und Bechergefässe mit Verdünner gereinigt werden. Die Behälter tragen Gefahrstoffkennzeichen als Warnhinweise. Das Reinigen wird auf einem Arbeitstisch gemacht. Dabei erwähnt einer der Mitarbeiter auf die offene Frage, wie es ihm bei dieser Arbeit gehe beiläufig, dass er abends nach der Schicht oftmals Kopfschmerzen habe. Das ist ein erstes echtes Warnindiz! Gesetzlich sind Unternehmen gehalten, auf derlei Indizien zu reagieren. Wussten Sie das?

Gefährdungsbeurteilung „ad-hoc“ führt zu ersten Spontanmassnahmen

Die erste Frage zielt auf mögliche schnelle Abhilfe: Müssen die Behältnisse mit der Verdünnung ständig offenstehen? Denn nur von offenen Oberflächen kann etwas verdunsten. Das Auflegen eines Deckels schafft schonmal sofortige Abhilfe. Wo ein Pinsel oder sonstiges Werkzeug eingetaucht ist, wird ein Ausschnitt in den Deckel gemacht, sodass die freie Oberfläche um 90% geringer wird. Das kann wirklich jeder. Dafür muss kein Dokument geschrieben, keine aufwändige Risiko-Bewertung durchgeführt werden. Die Exposition gegenüber potentiell gesundheitsgefährdenden Lösemitteldämpfen ist damit sofort wirkungsvoll gemindert.

Schritt 2: Bewertung des Gesamt-Risikos

Es werden noch einige Fotos vom Arbeitssystem aufgenommen, und dann geht´s ab in´s Büro. Die Sicherheitsfachkraft beginnt mit der Risiko-Bewertung. Anhand der Gesprächsnotizen, der Bilder und des Gesamteindruckes wird geschaut: Womit haben wir und die betreffenden Mitarbeiter es hier wirklich zu tun? Dass dabei die verwendeten Gefahrstoffe zunächst im Fokus stehen, dürfte jedem klar sein. Darum werden als Referenz zur Bewertung des Risikos, der mit der Verwendung des  Gefahrstoffes einhergeht, die Sicherheitsdatenblätter der Produkte angeschaut. Und siehe da, was man vielleicht schon geahnt hat, bestätigt sich: Die Dämpfe sind in mehrfacher Hinsicht gesundheitsschädlich. Man könnte jetzt eine aufwändige Messung beauftragen, um festzustellen: Wird hier der zulässige AGW[1] (früher: MAK[2]) Wert überschritten? Solche Messungen sind aufwändig, teuer, und im Ergebnis oft unklar, daher meist wertlos. Denn wie ist beispielsweise sichergestellt, dass durch die Messung die Situation im Arbeitssystem repräsentativ als Regelbetrieb erfasst wurde? Praktiker wissen: Wer viel misst, misst auch viel Mist. Das geht auch einfacher.

Schritt 3: Setzen von Schutz-Zielen

Natürlich muss sichergestellt sein, dass in einem Arbeitssystem mit bis zu acht Stunden Exposition der Mitarbeiter pro Arbeitstag gegenüber dem Gefahrstoff der zulässige MAK-Wert dauerhaft unterschritten wird. Das ist das verbindlich zu erreichende Mindest-Schutzziel. Wie, also durch welche Schutzmassnahme, dieses Ziel erreicht und sichergestellt wird, ist zweitrangig. Es müssen also Massnahmen gefunden werden, durch deren Anwendung hier das Risiko für die Mitarbeiter auf ein akzeptabel niedriges Niveau reduziert wird.

Schritt 4: Finden und Umsetzen von Schutz-Massnahmen

Der Gesetzgeber verlangt bei der Schutzzielerreichung eine Vorgehensweise, die die Auswahl anwendbarer Schutz-Massnahmen hierarchisch ordnet und gliedert (mehr darüber an anderer Stelle). Das ist kein Schwall in´s All, das ist festgeschrieben im Arbeitsschutzgesetz. Sollte man also ernst nehmen. Die Forderung des Gesetzgebers, die immer zuerst auf ihre Umsetzbarkeit überprüft werden muss, die Substitution, also Ersetzung des Verdünners durch ein anderes Produktionshilfsmittel, ist zum Zeitpunkt des hier geschilderten Vorganges nicht möglich. Es gibt am Markt kein anderes Produkt, mit dem die gleiche Ergebnisqualität erreicht werden kann, und das dabei weniger gesundheitsgefährdend ist. Also müssen wir eine Stufe tiefer einsteigen: Bekämpfung der Gefahr an der Quelle heisst das Motto. Das wurde bereits ein Stück weit mit der Eindämmung der verdunstenden Menge durch Auflegen von Deckeln auf offene Behälter erreicht. Der nächste Schritt als Schutzmassnahme ist die Errichtung eines Labor-Abzuges: Alle Arbeiten mit dem Gefahrstoff sollen künftig innerhalb eines von drei Seiten und nach oben geschlossenen Raumes von ca. einem Kubikmeter Volumen auf dem Arbeitstisch ausgeführt werden. Dieser Raum wird mittels Kunststoff- oder Blechplatten auf dem Tisch errichtet. Durch einen Luftabzug mit Ventilator wird der Raum über der Arbeitsfläche konsequent entlüftet. Zudem wird nach vorne, zum Benutzer hin, der noch offene Bereich von oben bis zur Mitte mit einer transparenten Macrolon[3]-Scheibe verschlossen. Der Benutzer kann auf diese Weise sehen, was er macht. Durch die Absaugung an der Rückwand entsteht ein beständiger Luftstrom von vorne in das Gehäuse hinein, also vom Benutzer weg. Dieser kontinuierliche, langsame Luftstrom verhindert das Ausbreiten von Gefahrstoffdämpfen in den Raum hinein. Alles was verdunstet, verschwindet sofort in der Absaugung nach draussen.

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Wirkungskontrolle und Anpassung

Nach ein paar Tagen haben die Mechaniker und Schlosser des Unternehmens die Labor-Absaugung errichtet und angepasst, und an die Entlüftungstechnik angeschlossen. Eine Überprüfung ergibt: Keine Geruchsbelastung mehr, bei gleichbleibenden Tätigkeiten im Arbeitssystem. Seitdem geht hier kein Mitarbeiter mehr mit Kopfschmerzen nachhause.

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[1] Arbeits Platz Grenzwert

[2] Maximale Arbeitsplatz Konzentration (alte Bezeichnung)

[3] Transparenter Werkstoff ähnlich Plexiglas; lässt sich bohren, schneiden, biegen, kanten, etc.